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Experten-Interview April 2022



Job-Speed-Dating 2022 in Berlin – hörbehinderte / gehörlose Arbeitssuchende willkommen

Seit 2017 werden in Berlin Job-Speed-Datings für Arbeitsuchende mit Behinderungen durchgeführt. Ich habe ich die Organisatorin Maria-Victoria Trümper von der „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.“ (ISL) über die Details interviewt.

 

Frau Trümper, können Sie uns kurz erläutern, was bei diesem Job-Speed-Dating passiert?

Maria-Victoria Trümper: Die ISL ist eine menschenrechtsbasierte Selbstvertretungsorganisation für behinderte Menschen. Wir arbeiten behinderungsübergreifend auf der Basis der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Daher wollten wir ein alternatives Bewerbungskonzept etablieren, wo Menschen mit Behinderungen den klassischen Papier-Bewerbungsprozess überspringen, bei dem sehr viele behinderte Menschen schon Diskriminierungen und Benachteiligungen erfahren haben und von vorne herein aussortiert werden.

Arbeitgeber, die einen Job auf dem 1. Arbeitsmarkt zu vergeben haben, treffen auf Bewerber, die mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen leben und einen Job im Bereich Büro suchen. In jeweiligen achtminütigen Gesprächen unterhalten sich beide Parteien miteinander. Man rotiert von Tisch zu Tisch.

Beim Job-Speed-Dating handelt es sich nicht um die üblichen Bewerbungsgespräche, sondern um ein persönliches Kennenlernen und den Abbau von Berührungsängsten, um sich später auf ein weiteres Bewerbungsgespräch mit den wirklichen Stärken und Kompetenzen der Bewerber*innen entsprechend zu verabreden.

 

Es gibt dieses Jahr zwei Termine am 20.5.2022 und am 24.06.2022 in Berlin. Was passiert an den beiden Tagen?

Am Freitag, den 20.5. ist der Termin für das sogenannte Vorbereitungscoaching. Das Vorbereitungscoaching in Berlin (in Präsenz) ist verpflichtend für alle Teilnehmer, wenn sie beim Job-Speed-Dating dabei sein wollen. Dort bereiten wir die Teilnehmenden den ganzen Tag auf das Job-Speed-Dating vor. Es ist eine Mischung aus Empowerment-Training, theoretischen Inhalten und praktischen Übungen. Das Coaching haben wir selbst entwickelt und verbessern es stetig. Es geht den ganzen Tag und ist sehr intensiv, aber vor allem auch abwechslungsreich und kreativ gestaltet. Nach dem Vorbereitungscoaching können sich die Teilnehmenden selbstbestimmt überlegen, ob sie am Job-Speed-Dating wirklich teilnehmen möchten (was die Meisten dann auch tun) – alles ist bei uns freiwillig.

 

Das richtige Job-Speed-Dating findet dann am 24.6. in Berlin statt. Dort treffen dann Arbeitgebende und Teilnehmer*innen an einem Vormittag aufeinander. Anschließend klingen wir den Dating-Tag mit einem informellen Zusammenkommen und Unterhaltung bei einem Mittagssnack aus.

 

Das Coaching am 20.05.22 ist sicherlich ganz wichtig. Wenn jemand aber an diesem Tag nicht kommen kann, ist es trotzdem möglich am Bewerbungstag am 24.06.2022 teilzunehmen?

Das ist schwierig! Wir möchten alle einheitlich vorbereiten, sodass alle auf dem gleichen Stand sind und die gleichen Voraussetzungen haben beim Job-Speed-Dating.

 

Im Coaching erklären wir ganz genau, wie das Job-Speed-Dating funktioniert und machen auch spezielle Übungen dafür, um zu lernen, wie man in kurzer Zeit sich selbst präsentieren kann. Außerdem dient das Coaching dazu, sich untereinander als Teilnehmende, aber auch uns von der ISL persönlich kennenzulernen und sich auszutauschen.

 

Alle Teilnehmenden haben unterschiedliche Behinderungen, sind unterschiedlich in Gender, Alter, Ausbildung, mit und ohne Migrationsgeschichte. Von Anfang 20 und aus dem Berufsbildungswerk kommend bis Ende 50 und mit Doktor-Titel haben wir immer alles dabei.

 

Und ganz wichtig! Alle haben unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen im Bereich Arbeit und Bewerbungen gemacht. Auch darüber tauschen wir uns aus. Da ist es eben ganz wesentlich, dass die ISL als Peer dient. Mein Kollege Karsten Sanner z. B. hat mit seiner nicht-sichtbaren Behinderung ganz andere Diskriminierungserfahrungen auf dem Arbeitsmarkt gemacht als mein Kollege Alex Ahrens, der Rollstuhlnutzer ist. Darüber tauschen wir uns auch im Coaching als Gruppe aus, das schweißt zusammen.

 

Wir geben den Teilnehmern Tipps für Stresssituationen und wie sie damit umgehen können. Die Gruppe bestärkt sich auch gegenseitig, das ist ein Mehrwert, den man online z. B. nur sehr schwer umsetzen könnte, wenn man sich von vorne herein nicht „in Echt“ kennt. Außerdem möchten wir den Teilnehmern die Angst vor dem Job-Speed-Dating-Tag nehmen.

 

Und es gibt übrigens viel zu lachen, auch dafür haben wir gesorgt! Das Vorbereitungscoaching soll auch insofern nachhaltig sein, dass man daraus etwas mitnehmen kann, das man nicht nur am Job-Speed-Dating-Tag umsetzen kann. Das ist unser Ziel!

 

Können sich Teilnehmer auch außerhalb von Berlin anmelden?

Grundsätzlich ja! Wir haben jedes Jahr Personen dabei, die auch aus Brandenburg oder anderen Bundesländern kommen. Aber Fahrt- und Unterkunftskosten können wir nicht übernehmen. Es muss auch klar sein: Das Job-Speed-Dating in Berlin ist auch für Jobs in und maximal um Berlin herum gemeint. Wenn man also z. B. aus Hamburg kommt, muss klar sein, dass die Jobs, die die Arbeitgeber anbieten, eben in Berlin sind. Man muss dann ggf. auch bereit sein, umzuziehen. Es ist ein regionales Job-Speed-Dating. Aber sind wir gerade dabei für Job-Speed-Datings auch in anderen Städten zu sorgen.

 

Ist die Teilnehmerzahl von Arbeitssuchenden begrenzt?

Ja, im Schnitt sind es 16 bis 20 Personen. Das Verhältnis ist 1 zu 2, bedeutet: An einem Tisch sitzen auf der einen Seite ein Arbeitgeber, auf der anderen zwei Bewerber. Erst spricht die eine sich zu bewerbende Person, dann acht Minuten die andere. So hat man als Bewerber immer ein Acht-Minuten-Gespräch und dann wieder acht Minuten Pause.

 

Außerdem ändert sich hierbei ganz bewusst das Machtverhältnis zwischen Arbeitgeber und Bewerber: Die Bewerber sind in der Anzahl gleich oder mehr als die Person(en) auf der Arbeitgeberseite – das empowert nicht nur die Bewerber selbst, sondern die beiden Bewerber zusammen, die als Zweier-Paar dort sitzen. Sie können sich gegenseitig ermutigen und geben sich das Gefühl, nicht allein zu sein.

 

Der Arbeitgebende hat die ganze Zeit mit den Gesprächen zu tun und muss sich auf immer wieder neue Personen einlassen. In normalen Bewerbungsgesprächen sitzt man i. d. R. allein gegenüber von meist mehreren Personen aus dem Betrieb, bei dem man sich bewirbt. Wir wissen alle, dass das eine verunsichernde Situation ist, in der man sich oft allein und/oder verloren fühlt. Beim Job-Speed-Dating sind die Bewerber nicht allein und sogar noch in der Überzahl zu den anwesenden Arbeitgebern. Ein ganz neues Gefühl!

 

Alle Arbeitgeber beim Job-Speed-Dating haben konkrete Jobs auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt zu vergeben. Es handelt sich hier nicht um Arbeitsplätze in Werkstätten. Das ist uns wichtig, weil wir eine Menschenrechtsorganisation sind und entsprechend das Konzept der WfbMs nicht vertreten können, dass man dort für im Schnitt 1,30 Euro pro Stunde arbeiten muss.

Unter den Teilnehmern, gibt es auch einige, die in einer Werkstatt arbeiten und dort raus wollen oder man ihnen schon nahegelegt hatte, in eine Werkstatt zu gehen, weil sie z. B. keinen Job auf dem 1. Arbeitsmarkt finden. Darunter sind teilweise auch Personen, die ein Hochschulstudium absolviert hatten!!

 

Mit wie vielen Firmen, die einen Job zu vergeben haben, rechnen Sie? Und mit wie vielen Jobs?

Dieses Jahr werden es wieder zwischen acht und zehn Arbeitgeber sein. Von kleiner Firma oder Sozialverein, Start-Up über Verband, Bezirksämtern und Verwaltungen bis hin zu sehr großen Institutionen und sogar Bundesministerien ist i. d. R. alles dabei.

 

Interessant ist auch: Wir hatten schon Teilnehmer, die sich bei Arbeitgebern erfolglos beworben hatten und dann genau diesen im Gespräch beim Job-Speed-Dating gegenübersaßen. Da konnten die Personen auch sagen, dass sie sich schon mal dort beworben hatten und hatten einen Gesprächsaufhänger!

 

Man kann sich also jetzt direkt vorstellen und zeigen, was man alles draufhat!

 

Die Job-Datings finden seit 2017 statt. Wie sind Sie bis jetzt von arbeitssuchenden behinderten Menschen angenommen worden? Und wie von den Firmen?

Bislang überraschend gut, sonst hätten wir es nach Ende unseres Pilotprojekts 2019 („Birlikte – gemeinsam für Inklusion in der Arbeitswelt“) nicht weitergeführt.

Aber wir sind drangeblieben, auch wenn es eine sehr komplexe und zeitaufwändige Organisation ist. Wir haben sogar einen ehemaligen Teilnehmer aus dem Job-Speed-Dating direkt selbst bei uns eingestellt, unser Kollege Karsten Sanner. Mittlerweile hat er die Position unserer Büroleitung inne.

 

Wie schon gesagt: Wir als ISL können keine konkreten Jobs versprechen und dafür sorgen, dass alle Teilnehmer sofort vom Fleck weg eingestellt werden. Aber wir evaluieren im Anschluss sehr sorgfältig und daher wissen wir, dass tatsächlich im Schnitt 25 Prozent durch uns einen Job finden. Wir hatten Teilnehmer, die hatten schon bis zu mehrere hundert Bewerbungen geschrieben und haben durch unser Job-Speed-Dating eine Arbeit gefunden.

 

Das motiviert uns, weiterzumachen! Für die Teilnehmenden ist das Job-Speed-Dating extrem empowernd. Für Arbeitgebende ist eine Offenbarung uns sie lernen zu verstehen, was es heißt, Menschen mit Behinderungen einzustellen? Nämlich: kompetente, qualifizierte Menschen mit extrem viel Wissen und Erfahrungsschatz als Arbeitnehmer zu haben, die nur nie gesehen werden, weil behinderte Menschen in unserer Gesellschaft konstant exkludiert und unsichtbar gemacht werden.

 

Teilhabe ist kein Lippenbekenntnis und Inklusion kein „Wohlfahrtsakt“, sondern ein menschenrechtliches Prinzip, das völkerrechtlich verankert ist. Viele Arbeitgebende sind mehrmals mit dabei und stellen darüber regelmäßig behinderte Personen ein. Anscheinend haben wir da was angestoßen.

 

Welche Unterstützung können hörbehinderte / gehörlose Bewerber im Rahmen des Job-Datings bekommen? Sind z. B. Gebärdensprachdolmetscher*innen vor Ort?

Ganz wichtig ist, dass wir die individuellen Bedarfe kennen! Nur dann können wir entsprechend organisieren. Daher frage ich alle Teilnehmenden, wenn sie sich bei uns anmelden, welchen Bedarf sie haben, damit wir eine barrierefreie Veranstaltung gewährleisten können.

 

Wenn z. B. eine Person taub ist, organisieren wir natürlich einen Gebärdensprachdolmetscher, der von Tisch zu Tisch diese Person begleitet und übersetzt. Wenn schwerhörige Personen eine Hörschleife benötigen, organisieren wir das auch.

 

Wir weisen auch immer alle anwesenden Personen – sowohl die Bewerber wie auch die Arbeitgeber - darauf hin, wenn z. B. besondere Vorkehrungen wie Gebärdensprachdolmetscher oder Höranlage vor Ort sind, damit alle Bescheid wissen und darauf Rücksicht nehmen. Wir achten auch darauf, dass Hörbehinderte und Gebärdensprachdolmetscher die besten Ausgangsvoraussetzungen in der Umgebung haben, dass z. B. ausreichendes Licht vorhanden ist usw.

 

Alle Vorstellungsgespräche dauern acht Minuten. Steht Hörbehinderten / Gehörlosen ein etwas längerer Zeitrahmen zur Verfügung?

Am Anfang und Ende gibt es einen Gong für die Hörenden. Für Hörbehinderte gibt es ein Signal am Anfang und am Ende des Gespräches.

Wir haben einen genauen Zeitplan, daher gibt es für alle die gleiche Zeit von acht Minuten. Das hat bislang immer sehr gut funktioniert und wir haben dazu auch bisher immer nur positives Feedback bekommen, sonst hätten wir das verändert oder flexibler gestaltet.

 

Angesicht der Corona-Sicherheitsvorkehrungen müssen vieler Orts Masken getragen werden. Diese verdecken die Mundbilder, erschweren das Hörverständnis und für Gehörlose machen sie sogar die Kommunikation komplett unmöglich. Welche Überlegungen gibt es diesbezüglich für die Veranstaltung?

Wir stellen Visiere zur Verfügung. Außerdem gibt es sowohl zwischen den einzelnen Tischen genügend Abstand und/oder Trennwände und auf dem Tisch nochmal eine durchsichtige Trennwand.

Wir haben ein ausgefeiltes Hygienekonzept. Masken und/oder Visiere müssen immer dann getragen werden, wenn man sich im Raum bewegt. An den Tischen beim Gespräch dürfen die Masken und Visiere abgenommen werden, sodass man ungehindert kommunizieren kann. Wer natürlich trotzdem eine Maske oder ein Visier tragen möchte, kann das gerne tun. Wir möchten, dass alle sich wohl und sicher fühlen und respektvoll miteinander umgehen. Beim letzten Job-Speed-Dating im Herbst 2021 hat es wunderbar geklappt. Alle haben sich an die Regeln gehalten, das Hygienekonzept ist aufgegangen. Niemand hatte sich durch unsere Veranstaltung infiziert. Wir haben alle einchecken lassen über eine App zur Kontaktverfolgung und alle Personen haben einen Impfnachweis und/oder einen tagesaktuellen PCR-Test vorgelegt.

 

Planen Sie zukünftig auch in anderen Großstädten Job-Speed-Datings anzubieten?

Ja, wir führen seit 2021 ein neues, dreijähriges Projekt durch. Es heißt „Job-Speed-Dating – gestärkt und inklusiv ins Arbeitsleben.“ In diesem Projekt weiten wir im die Job-Speed-Datings bundesweit aus.

 

Fünf unserer Mitgliedszentren (sogenannte „Zentren für selbstbestimmtes Leben“) in ganz Deutschland sind dabei: in Mainz (ZsL Mainz), Stuttgart (ABS Stuttgart), Würzburg (WüSL), Regensburg (Phoenix e.V.) und Kiel (ZsL Nord). Regensburg wird am 2. Juni bereits sein erstes Job-Speed-Dating im Rahmen der „Inklusiven Job-Messe“ vor Ort durchführen. Das Vorbereitungscoaching findet hierzu am 9. Mai vor Ort statt.

 

In allen anderen Städten findet das Job-Speed-Dating im Frühjahr/Sommer 2023 statt, die Termine werden noch festgelegt. Für Berlin planen wir, in Zukunft mal ein spezielles Job-Speed-Dating mit Teilnehmern, die das Budget für Arbeit in Anspruch nehmen wollen, durchzuführen. Aber das ist erstmal noch eine fixe Idee, da müssen wir noch dran feilen.

 

Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg!

 

Text: Judit Nothdurft

Bild: ISL e.V.

 
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