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Experten-Interview Januar 2018



Taube Gebärdensprachdolmetscher – ein kaum bekannter Beruf

 

Katja Fischer ist eine vielseitige Persönlichkeit in der Gehörlosengesellschaft. Die gelernte Zahntechnikerin studierte später Sozialpädagogik und Soziale Arbeit. Heute unterrichtet sie an der Hochschule Magdeburg-Stendal für den Bachelor-Studiengang „Gebärdensprachdolmetschen“ und ist auch als taube Gebärdensprachdolmetscherin und Übersetzerin tätig.

 

Hinter uns liegt das Jahr 2017. Frau Fischer, wenn Sie zurückblicken, war es ein erfolgreiches Jahr für Sie?

Katja Fischer: Dieses Jahr habe ich zum ersten Mal die Sitzungen im Abgeordnetenhaus in Berlin und im Landtag Brandenburg für die RBB Sendung „Heute im Parlament“ im Auftrag des Zentrums für visuelle Kommunikation gedolmetscht. Ein spannender Job mit Herausforderungen!

 

Ich bin schon seit 1999 Dozentin für Deaf Studies und Gebärdensprache und seit 2005 Dozentin für den Studiengang BA/MA Gebärdensprachdolmetschen. Davor war ich als Sozialpädagogin in der Kinder- und Jugendarbeit sowie als Betreuerin für eine Wohngemeinschaft für mehrfachbehinderte Taube tätig. Vor einigen Jahren bin ich durch meine Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal auf das weiterbildende Studium in Hamburg „Taube Gebärdensprachdolmetscher“ aufmerksam geworden. Ich habe dies studiert und nach der staatlichen Prüfung begann ich als taube Dolmetscherin zu arbeiten. Nach und nach spezialisiere ich mich auf den Bereich Politik und Soziales. Die Professionalisierung der TGSD kommt leider nur sehr langsam voran.

 

Wie bereiten Sie sich vor auf Dolmetschen im Landtag?

In der Regel gibt es für den Landtag Tagesordnungen mit Anträgen, die die Grundlagen für die Vorbereitung sind. Hier kann ich lesen, worum es geht. Auf der Sitzung sprechen die Abgeordneten aber nicht den gleichen Text, sondern eigene Texte. Die Landtagssitzung wird live im Internet übertragen. Ich bin im Studio und im Hintergrund wird die Sitzung eingeblendet. Manche Abgeordnete reden nicht klar oder sehr schnell oder sie lesen nur den Text vor oder sagen viele Zahlen, die man sich dann merken muss. Auch die Stimmung während der Sitzung ist oft unterschiedlich. Manche sind empört, andere ruhig und manchmal wird richtig gestritten. Alles ist möglich und all das müssen wir auch live dolmetschen können. Das eine echte Herausforderung!

 

Wie können taube Gebärdensprachdolmetscher (=TGSD) Reden, Diskussionen Live-Veranstaltungen dolmetschen, wenn sie selber nichts hören….

Taube Dolmetscher sind in der Regel selbst taub und beherrschen die Gebärdensprache als Erst-Sprache (L1). Die Arbeitssprachen der TGSD sind unterschiedlich: Deutsche Gebärdensprache, Schriftdeutsch, internationale Gebärden, Landesgebärdensprachen, z.B. Türkisch, Russisch, Polnisch, taktile Gebärden oder leichte Gebärdensprachen.

 

Und die Arbeitsprachen der hörenden Dolmetscher (=höGSD) sind überwiegend gesprochenes Deutsch, Deutsche Gebärdensprache, Englisch. Auch arbeiten wir mit Schriftdolmetschern zusammen und zu bestimmten Anlässen im Team mit höGSD.

 

Beispiel: Ich war für die Inklusionstage 2017 bestellt. Dort dolmetschte ich Deutsche Gebärdensprache in Internationale Gebärden gemeinsam mit zwei tauben Kollegen. Die hörenden Dolmetscher übersetzten gesprochenes Deutsch in Deutsche Gebärdensprache. Also müssen TGSD die höGSD sehen können, um in Internationale Gebärden zu übersetzen.

 

Bei einer Konferenz, die ausschließlich aus tauben Teilnehmern besteht, arbeiten taube Dolmetscher alleine unter sich.

 

Welche Bedeutung bzw. welche Rolle spielen taube Dolmetscher in der Kommunikation für Gehörlose?

Entscheidend sind die Arbeitssprachen, wie ich vorhin erwähnt habe. Die Arbeitssprachen der höGSD sind überwiegend gesprochenes Deutsch, Deutsche Gebärdensprache und Englisch. Dafür gibt es einen sehr hohen Bedarf in Deutschland mit etwa 100.000 tauben Kunden.

 

Jedoch gibt es Zielgruppen, wie internationale Gäste, Migranten oder Flüchtlinge, die eigene Sprachen benutzen, wie leichte Gebärdensprache für Lernbehinderte, internationale Gebärden für Gäste oder Geflüchtete, türkische Gebärdensprache für türkische Migranten, taktile Gebärden für Taubblinde und viele andere Gebärdensprachen. Dort werden taube Dolmetscher im Team mit höGSD dann eingesetzt.

 

Da taube Dolmetscher neben dem Gebärdenspracherwerb im Kindesalter und in der Sozialisation ihres kulturellen Milieus, in Kita, Schule, Internat, Ausbildungen aufwachsen beherrschen sie den L1 (Erstsprache). Diese Kompetenzen helfen auch aufgrund der gleichen Erfahrungen bestimmten Zielgruppen oder ermöglichen eine höhere Identifikation, wenn beide taub sind.

 

Was denken Sie, wie könnte man die Anerkennung von tauben Dolmetschern in unserer Gesellschaft verbessern?

Wir brauchen nach wie vor viel Öffentlichkeitsarbeit und gute Zusammenarbeit mit den Berufsverbänden, um bekannter zu werden und für die Finanzierung notwendige Grundlagen zu klären. Erst seit 5 Jahren werden taube Dolmetscher in Deutschland in verschiedenen Arbeitsgebieten, wie Gericht, Polizei, Konferenz/Tagung, Landtag/Bundestag, Bundesbehörde, eingesetzt.

 

Ganz im Gegensatz zu Bereichen wie Arztbesuch, Krankenhaus, Landesbehörden (Sozialamt, Jugendamt), Standesamt etc. Hier gibt es oft keine finanzielle Grundlage für den Einsatz von TGSD, daher werden sie dort auch kaum oder sehr wenig eingesetzt. Oft wissen auch taube Kunden gar nicht, dass sie auch einen Anspruch auf TGSD (Taubblinde, Lernbehinderte, Migranten) haben.

 

Die ganze Dolmetscher-Community oder die hörenden Auftraggeber kennen zum Teil kaum TGSD oder wissen nicht, ob sie eingesetzt werden können. Bis jetzt haben nur wenige hörende Dolmetscher mit uns tauben Dolmetschern zusammengearbeitet.

 

Entsprechende Präsenz in den Medien ist für uns entscheidend und hilfreich. In Großbritannien werden schon seit vielen Jahren taube Dolmetscher eingesetzt, seit kurzem auch bei der BBC. In Deutschland sind TGSD auf Phönix in „Heute“ und „Tagesschau“ zu sehen.

 

Es wäre auch wichtig, dass Gebärdensprachdolmetscher nicht nur im Internet, sondern auch im TV zu sehen sind. So kann die Gesellschaft sie kennenlernen und sich an die Gebärdensprache gewöhnen. Einige der Zuschauer sind schon jetzt von der Gebärdensprache fasziniert. Diese einzigartige Sprache könnte jeder erlernen und man wird dadurch auch offener im Umgang mit tauben Menschen.

 

Wir könnten dann ganz anders wahrgenommen und gleichwertig angesehen werden!

 

Wie ist die Auftragslage für taube Dolmetscher?

Das kann ich so allgemein nicht beantworten, hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Viele TGSD haben bereits eine Vollzeitstelle oder einen Standort. Manchmal gibt es mehr zu tun in Hamburg als in Berlin oder umgekehrt. Die meisten TGSD sind in Hamburg und Berlin tätig. In NRW und Bremen arbeiten nur einige taube Dolmetscher, in Bayern, Niedersachsen, Baden-Württemberg ist jeweils eine Person tätig.

 

Die meisten Aufträge laufen im Bereich Übersetzung, Medienübersetzen für Internetseiten, die barrierefrei nach BITV 2.0 gestaltet werden sollen, d.h. Videos mit Gebärdensprachübersetzung.

 

Entscheidend sind die rechtlichen Grundlagen für höGSD und TGSD, die auch Einsätze der TGSD finanzieren. Daran arbeiten die Berufsverbände. Es ist nicht so einfach, da eine Novellierung der Gesetze meist erst in 5-10 Jahren beginnt. Manchmal kann man etwas an den Verordnungen ändern.

 

Nach wie vor brauchen wir viel Öffentlichkeitsarbeit und gute Zusammenarbeit in den Berufsverbänden in jedem Bundesland und auch im Bundesverband. Viele Kollegen dort sind interessiert an der neuen Entwicklung. Ich denke, es wird noch eine spannende Zeit kommen, wo die Einsätze mit TGSD als selbstverständlich bezeichnen werden können. Der Weg bis dahin ist noch lang.

 

Vor kurzem fand die WFD-Konferenz (WFD=Weltverband der Gehörlosen) in Budapest statt. Wie war es dort mit der Besetzung von tauben Gebärdensprachdolmetschern?

Auf der Konferenz in Budapest ging es um den Zugang mit Gebärdensprachen in die Lebensgebiete Bildung, Technik, Arbeit etc. in Verbindung mit der UN-Konvention für Menschen mit Behinderung.

 

Wie ich es gesehen habe, wurden dort erstmals offiziell und bewusst überall Teams von hörenden und tauben Gebärdensprachdolmetschern eingesetzt. Ich denke, die WFD wollte damit zeigen, dass diese Möglichkeiten bestehen. Sie sind aus sprachtechnischen Gründen und auch im Sinne der Inklusion wichtig.

 

Sie sind als taubes Kind einer hörenden Familie in der ehemaligen DDR aufgewachsen. Wie ist Ihre Beziehung zur Gebärdensprache und zur Gehörlosenkultur entstanden?

In den 70er Jahren DDR bekamen alle hörenden Familien das amerikanische Fingeralphabet zum Lernen, um mit dem Kind zu kommunizieren. Damals war die Gebärdensprache nicht selbstverständlich. Erst ab den 90er Jahren gab es eine Bewegung für eine Anerkennung der Gebärdensprache, die ja seit 2002 gesetzlich anerkannt ist.

 

Meine Eltern hatten Kontakte zu anderen hörenden Familien im sächsischen Vogtland, die auch taube Kinder hatten. Wir trafen uns regelmäßig an den Wochenenden, wenn eines von uns Kindern Geburtstag hatte oder es ein besonderes Fest gab. Für die Eltern war es eine Art Selbsthilfegruppe und wir Kinder hatten Kontakt mit Gebärdensprache und Kultur untereinander.

Wir fuhren auch gemeinsam mit dem Zug zum Bus, der uns nach Leipzig brachte. Die Eltern wechselten sich als Aufsichtsperson ab. Es war also ein gut funktionierendes Netzwerk.

 

In Leipzig gab es die hiesige Gehörlosen- und Schwerhörigenschule mit Internat, dort wuchsen wir auf. So war es damals. Man ging mit 3 Jahren dort hin und hatte dadurch auch automatisch direkt Kontakte mit anderen tauben Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und auch Lehrern mit Gebärdensprache, deren Kultur mit eigenen Kommunikationsformen. Es gab Kunstangebote, Theater und Poesie, sowie eigene Klubheime und Sportangebote.

 

Was wünschen Sie sich für die gehörlose Gesellschaft für das Jahr 2018?

Die UN-Konvention für Menschen mit Behinderung (UN-BRK) hat Deutschland 2009 ratifiziert, diese sagt Selbstbestimmung, Recht auf Zugang, Inklusion und Barrierefreiheit zu. Momentan sind wir davon noch entfernt und ich wünsche, dass Deutschland die Gesetze, entsprechend der Grundlagen der UN-BRK ändert.

 

Die Rechte für taube Menschen sind nicht überall zugänglich. Es besteht z. B. kein Dolmetscheranspruch im privaten Bereich, bei Beratungen mit Anwälten, Verbraucherschutz, Banken, Hochzeiten, Beerdigungen, wissenschaftlicher Laufbahn oder durch Berufswechsel, einer neuen Ausbildung etc. Noch immer sind Bahnhöfe oder die Medien wie TV und Internet nicht barrierefrei! Es fehlen Untertitel, Dolmetschereinblendung oder schriftliche Informationshinweise.

 

Es werden nicht in allen Kitas oder Schulen Dolmetscher eingesetzt und viele Eltern müssen noch dafür kämpfen, da die rechtlichen Grundlagen fehlen. Neuerdings hat das Sozialamt, Eltern beim Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung gemeldet, weil die Eltern bewusst in Gebärdensprache kommuniziert haben und dafür Assistenzleistungen im Kindergarten beantragen wollten. Das Sozialamt hat wegen der Nachrangigkeit der Zuständigkeit an die Krankenkasse gedacht. Diese könnte ja Cochlea Implantate (Hörprothesen in der Schnecke) finanzieren. Damit wäre die Finanzierung der Assistenzleistung geklärt. Das ist einfach schockierend und unverschämt, obwohl die Selbstbestimmung der Eltern vorliegt und die Gebärdensprache gesetzlich anerkannt ist. Und sowas passiert noch 2017!

 

Überall und häufig werden taube Menschen täglich diskriminiert. Wir dürfen nicht schlafen. Wir müssen immer wieder aufstehen und weiter dagegen kämpfen!

 

Vielen Dank für das Interview und ein erfolgreiches Jahr 2018!

 

Text: Judit Nothdurft

Foto: Katja Fischer

 

 
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